Veranstaltung: | Landesparteitag |
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Tagesordnungspunkt: | 1. Anträge |
Antragsteller*in: | Landesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne (dort beschlossen am: 02.04.2021) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 02.04.2021, 22:35 |
D 4: Positionierung zu Vollverschleierung in öffentlichen Gebäuden
Antragstext
Positionierung zu Vollverschleierung in öffentlichen Gebäuden
Bündnis 90/Die Grünen Schleswig-Holstein positionieren sich mit diesem Antrag
zur Vollverschleierung. Dem voraus gingen die Bitte der Universität Kiel, ein
Verbot der Vollverschleierung zu ermöglichen und darauffolgend ein Dissens
darüber in der Landespolitik. Auch in unserer Partei wurde sehr intensiv über
die Gründe des Tragens von Burka und Niqab und über mögliche Verbote diskutiert.
In zahlreichen erst physischen, dann digitalen Sitzungen wurde sich inhaltlich
ausgetauscht und um eine Positionierung der Partei gerungen.
Mit Sorge sehen wir, dass sich Menschen und Gruppierungen in ganz Europa[1]
nicht vollumfänglich an freiheitliche, gesellschaftliche Konsense halten und
ihre religiös, kulturell oder familiär geprägten Normen durchzusetzen versuchen.
Diesen Tendenzen erteilen wir Grünen eine deutliche Absage.
Wir betonen unsere Ablehnung jedweder radikalen, fundamentalistischen Auslegung
von Religion und damit auch jedes Zwangs zur Verschleierung. In unserer
aufgeklärten Kultur blicken wir uns in die Gesichter, hören uns zu und erhalten
gegenseitig einen Eindruck von der mentalen Verfassung und eventuellen Not- oder
Bedürftigkeitslagen unserer Mitmenschen. Diesen Konsens kündigt eine
Vollverschleierung bewusst auf, denn sie bedeutet eine asymmetrische
Kommunikation. Somit widerspricht sie unserem gegen massive Widerstände
errungenen gesellschaftlichen und politischen Konsens auf freie Kommunikation
und gleichberechtigte Teilhabe.
Wir stellen uns klar entgegen, wenn die freiheitliche Gesellschaft in Frage
gestellt wird. Wir wollen zugewanderte Menschen, die aufgrund von Unfreiheit und
Drangsalierung in ihren Heimatstaaten bei uns Zuflucht suchen, auch hier vor Ort
gemeinsam vor extremistischen Tendenzen schützen.
Wir setzen uns überall für Gleichberechtigung der Geschlechter ein,
selbstverständlich auch in religiösen Kontexten. Alle Menschen haben als
Träger*innen von Grundrechten grundsätzlich das Recht auf die freie Wahl ihrer
Kleidung. Dem gegenüber steht, dass die Vollverschleierung als Symbol der
Unterdrückung von Frauen durch patriarchale Strukturen von islamistisch-
faschistoiden Gruppierungen aus dem salafistischen Spektrum oder dem IS bewusst
gesetzt wird.[2]
Die Mittel und Wege hiergegen heißen Radikalisierungsprävention, entschiedener
Widerspruch gegen Versuche, den öffentlichen Raum zu okkupieren oder Frauen zu
instrumentalisieren, sowie konsequente rechtliche Sanktionen gegen
verfassungsfeindliche Vereins- und Gruppenstrukturen.[3] Wir unterstützen
säkulare Reformbewegungen innerhalb aller Religionen und bieten Menschen, die
religiösen, kulturellen oder familiären Druck ausgesetzt sind, staatliche
Beratung und Unterstützung an. Bestehende Unterstützungsangebote sind
diesbezüglich zu diversifizieren.
Als feministische Partei zielen unsere Maßnahmen gegen die Verursacher*innen von
Unterdrückung und gegen Diskriminierungsstrukturen. Wir unterstützen Frauen, die
von Unterdrückung betroffen sind und wollen sie nicht isolieren.
Wir betonen, dass Bildung seit jeher Schlüssel zu Emanzipation und Aufklärung
ist. Ziel aller unserer Maßnahmen muss daher sein, Opfer von Unterdrückung und
patriarchalen Strukturen den Weg zu Bildungseinrichtungen und die Teilnahme am
offenen Diskurs auch weiterhin offen zu halten.
Global dominieren immer mehr Gesellschaften und Ordnungsvorstellungen, in denen
Frauen in eine untergeordnete Rolle als (männlich) verfügbare, sexualisierte
Objekte gezwungen werden und sich im Zuge der (optischen) Durchsetzung dieser
auch verhüllen müssen. Dennoch existiert auch global betrachtet kein religiöses
Gebot zur (Voll-)Verschleierung, lediglich patriarchal motivierte staatliche
Gesetze sowie kulturelle Zwänge.[4]
Männer werden in dieser Logik von jeder Möglichkeit zur Affektkontrolle
freigesprochen. Daraus ergibt sich für alle nicht verhüllten und somit
„ehrlosen“ Frauen ein hohes Risiko an psychischer, physischer und sexualisierter
Gewalt.
Eine Vollverschleierung wird in Deutschland jedoch, anders als in islamistischen
Staaten, von den Frauen häufig freiwillig getragen, um ihre Demokratie-,
Menschen- und Frauenrechtsverachtung mit deutlicher Symbolik zum Ausdruck zu
bringen. In den verbleibenden Fällen wird von Familien und sozialem Umfeld auf
die Frauen ein zwangsgleicher Druck zur Verhüllung ausgeübt.[5]
Doch auch hier werden Frauen, die die Verhüllung ablehnen und ablegen, häufig
massiv drangsaliert, bedroht oder ermordet.[6]
Für viele Menschen aus muslimisch geprägten Gesellschaften ist die emanzipierte
westeuropäische Demokratie ein Vorbild und Hoffnungsschimmer, auch für die
gesellschaftlichen Verhältnisse in ihren Heimatländern.[7]
Wenn Frauenrechte in Teilbereichen der Gesellschaft erodieren, wirkt sich dies
über transgenerative Weitergabe sowie Nachahmung auch auf die gesamte
Gesellschaft und damit die gesellschaftliche Stellung aller Frauen aus.[8]
Für uns gilt weiterhin: In einer Zeit gezielter Spaltungsbestrebungen von
islamistischer und rechter Seite ist es unumgänglich, Streitfragen sachlich zu
diskutieren. Klar ist, dass wir die handelnden Akteur*innen an den Hochschulen
mit diesen Fragen nicht allein lassen werden und die Verantwortung nicht auf die
einzelne Bildungseinrichtung oder die individuelle Lehrperson verlagern wollen.
Nach Geschlechtern getrennte Lehrveranstaltungen, extrem komplizierte
Prüfungsmodalitäten oder andere dem Miteinander und gegenseitigen Austausch
entgegenstehende Konsequenzen, wären für uns inakzeptabel.
Aus dieser Ausgangslage heraus ergeben sich für uns zwei mögliche
Positionierungen:
- Ein Verbot der Vollverschleierung in öffentlichen Bildungseinrichtungen
und anderen öffentlichen Gebäuden würde das Problem der Unterdrückung
durch Verschleierungszwang aus Teilen des öffentlichen Raums in die
Unsichtbarkeit verdrängen, aber gewiss nicht lösen. Ein
Vollverschleierungsverbot lehnen wir deshalb ab.
- Ein Verbot der Vollverschleierung in öffentlichen Bildungseinrichtungen
und anderen öffentlichen Gebäuden halten wir als säkulare, feministische
Partei für ein erstes wichtiges Signal. Wir wollen ausdrücklich nicht,
dass zutiefst misogyne Ideologien vorgeben, welche Person sich
verschleiert oder verschleiern muss, um Verachtung der Frauenrechte sowie
unserer Demokratie im Allgemeinen zum Ausdruck zu bringen. Stattdessen
brauchen wir eine staatliche Regelung, um die Ausbreitung von
islamistischen Strukturen und Ideologien auch in Schleswig-Holstein zu
unterbinden.[9]
Die Anerkennung eines fundamentalistischen Symbols durch unsere Partei –
selbst bei gut gemeinter Verkennung der tatsächlichen Sachlage – wäre für
die Betroffenen ein fatales Signal mit realen, gewaltbehafteten
Auswirkungen und würde ausschließlich Fundamentalist*innen und
Vertreter*innen des legalistischen Islam in die Hände spielen.[10]
Außerdem erkennen wir an, dass die große Mehrzahl unserer Wähler*innen
eine Toleranz von Vollverschleierung aus guten Gründen nicht
nachvollziehen könnte.
Die Debatte um den isolierten Partikularaspekt Vollverschleierung hat auch
uns als Partei aufgezeigt, dass wir diesbezüglich starken Nachholbedarf
haben. Wir als Partei müssen und wollen uns zukünftig deutlich
ausführlicher und breiter mit dem Themenkomplex Islamismus und Stärkung
davon Betroffener – also insbesondere von Frauen und Kindern mit
Migrationsgeschichte – unter Einbindung dieser auseinandersetzen. Der
Landesvorstand und unsere Landesarbeitsgemeinschaften werden diesen
Dialogprozess gemeinsam und engagiert voranbringen.
Wir als Landesverband werden uns unabhängig von der Positionierung zu
Vollverschleierung noch mehr mit säkularen Muslim*innen, Ex-Muslim*innen und
weiteten von Islamismus betroffenen Gruppen und Einzelpersonen auseinandersetzen
und diese aktiv verstärkt in unsere politischen Prozesse einbinden. So werden
wir thematisch wie personell auf kommende Debatten weitaus besser vorbereitet
sein und können als Partei vor allem selbst ganzheitlich gedachte politische
Initiativen zur weiteren Verbesserung der Situation marginalisierter Gruppen
ergreifen.
Fußnoten/weiterführende Quellen:
[1] Zur Situation in Frankreich https://www.deutschlandfunk.de/kulturkampf-in-
frankreich-radikale-islamisten-erobern.886.de.html sowie zur Situation in der
Schweiz https://www.blick.ch/news/islamisten-paradies-schweiz-hetzen-planen-
finanzieren-id95547.html
[2] Rana Ahmad, Frauen dürfen hier nicht träumen
[3] Susanne Schröter "Politischer Islam – Stresstest für Deutschland" sowie
Ahmad Mansour in:
https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus229086699/Islamismus-Wie-der-
legalistische-Islam-unsere-Demokratie-bedroht.html
[4] Abdel-Hakim Ourghi - Ihr müsst kein Kopftuch tragen (2018), hier ein
kostenloser Artikel:https://rp-online.de/politik/deutschland/abdel-hakim-ourghi-
das-kopftuch-ist-ein-instrument-der-unterwerfung_aid-24216549
[5] s. Ergebnisse der Anhörung im Landtag SH zur Vollverschleierung
[6] Diese Fälle, die auch in Deutschland häufig zu beklagen sind, finden sich
seit dem Jahr 2000 auf der Seite www.ehrenmord.de .
[7] Rana Ahmad, "Frauen dürfen hier nicht träumen"
[8] Ayan Hirsi Ali, This is cultural suicide in:
http://www.weltwoche.ch/International sowie Ayaan Hirsi Ali “Prey. Immigration,
Islam, and the Erosion of Women’s Rights” Januar 2021 bei Harper Collins, New
York
[9] Ahmad Mansour: Klartext Integration – Gegen falsche Toleranz und Panikmache
https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus229086699/Islamismus-Wie-der-
legalistische-Islam-unsere-Demokratie-bedroht.html
Begründung
Erfolgt mündlich in Einbringungsreden für die beiden zur Wahl stehenden Positionen.
Unterstützer*innen
- Björn Hennig (KV Ostholstein)
- Valerie Wilms (KV Pinneberg)
- Ulrich Hühn (KV Kiel)
Änderungsanträge
- Globalalternative: D 4.1 (Anna Tranziska (KV Pinneberg), Benita von Brakel-Schmidt(KV Flensburg), Uta Röpke, Konstantin von Notz (KV Hzgt.Lauenb.), Amina Touré, Lasse Petersdotter, Steffen Regis, Luise Amtsberg, Jörn Pohl (KV Kiel), Cathy Nies (KV Ostholstein), Eingereicht)
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